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Twyla Cotton besaß einen Cadillac, der höchstens ein, zwei Jahre alt war. »Ich mag große Autos«, sagte sie.

Wir nickten, denn das galt auch für uns. Wir waren dem Wetter entsprechend dick eingemummt, und Twyla sah in ihrem dunkelbraunen Mantel aus wie eine Rumkugel.

»Wissen Ihr Sohn und seine Frau, dass wir hier sind und was wir hier machen?«, fragte ich vorsichtig.

»Parker und Bethalynn wissen Bescheid, glauben aber nicht, dass das zu irgendwas führt. Sie halten es für reine Geldverschwendung. Aber sie wissen auch, dass es mein Geld ist, das ich da verschwende, und wenn es mir dadurch besser geht...«

Hoffentlich waren sie diesbezüglich wirklich so gelassen, wie Twyla das schilderte. Familienangehörige können uns jede Menge Probleme machen - aber das ist auch nicht weiter verwunderlich, schließlich glauben sie gewöhnlich, wir würden die trauernden Hinterbliebenen hinters Licht führen. Wir hatten in unserem Leben allerdings bereits genügend Probleme gehabt, und wenn wir es irgendwie vermeiden konnten... Tolliver, der auf dem Rücksitz saß, und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu.

»Haben Sie Kinder, Harper?«, fragte Twyla.

»Nein, ich war nie schwanger«, sagte ich. »Aber ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Meine Schwester wird seit acht Jahren vermisst.«

Normalerweise verschweige ich das. Natürlich wissen manche Leute trotzdem Bescheid. Es hatte damals groß in allen Zeitungen gestanden. Aber da ging ich noch zur Schule und war noch keine ... wie immer man das auch nennen sollte.

»Haben Sie sonst noch Familie?«

Mit breitem Lächeln sagte ich: »Na ja, ich habe Tolliver. Und einen Halbbruder namens Mark und zwei kleine Halbschwestern, Mariella und Gracie. Sie leben in Texas bei unserer Tante und deren Mann.« Mark war genauso wenig mein Halbbruder wie Tolliver. Er war einfach nur Tollivers großer Bruder. Aber ich hatte keine Lust, das näher zu erklären.

»Oh, das tut mir leid. Ihre Eltern sind bereits verstorben?«

»Meine Mutter. Mein Vater lebt noch.« Er sitzt im Gefängnis, aber er lebt. Tollivers Mutter war gestorben, bevor sein Vater meine Mutter kennenlernte, und Tollivers Vater wurde aus dem Gefängnis entlassen und ... trieb sich irgendwo herum. Wenn man bedenkt, dass meine Eltern und Tollivers Vater Anwälte waren, sind sie wirklich tief gesunken. Sie haben sich regelrecht selbst in den Abgrund gestürzt.

Twyla wirkte ein wenig schockiert. »Oh, wie schrecklich. Das tut mir sehr leid für Sie.«

Ich zuckte die Achseln, so war es nun mal. »Danke«, sagte ich, wusste aber, dass ich nicht aufrichtig klang. Als ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, tat mir das leid, aber überrascht hat es mich nicht, im Grunde war ich sogar fast ein bisschen erleichtert.

Danach schwiegen wir, bis wir am Straßenrand hielten. Twyla sah auf ihre Liste, die sie nach einem kurzen Telefonat mit Sandra Rockwell erstellt hatte. Sandra Rockwell hatte die Orte, an denen ich mich umsehen sollte, tatsächlich nach Prioritäten gegliedert, und dieser Ort hier hatte die höchste Priorität.

Wir befanden uns hinter der Highschool, in der Nähe des Footballtrainingsplatzes, einem kahlen, ebenerdigen Stück Land. Eines der Dinger, um das sich die Jungs balgen, lag immer noch am Spielfeldrand, obwohl die Saison längst vorbei war. Das Vereinshaus war bis zum nächsten Jahr geschlossen. Jetzt spielte man wahrscheinlich Basketball.

»Hier stand sein Truck«, sagte Twyla. »Wir hatten ihm das Auto gerade erst gekauft. Es war ein gebrauchter alter Dodge. «

Sheriff Rockwell hatte über Jeff weniger Worte verloren als über die anderen Jungs, vielleicht weil sie wusste, dass wir noch mit seiner Großmutter reden würden. Ich sah mich um, konnte jedoch niemanden entdecken. Keine Menschenseele. Eine Entführung kam also durchaus in Betracht, auch wenn eine solche riskant war. Es konnte jeden Moment jemand aus dem Schulgebäude kommen. Aber es waren keine Häuser in der Nähe. Die Straße hinter dem Trainingsplatz war nichts weiter als eine kahle Piste vor einem steilen Hügel, der teilweise abgetragen worden war, um Platz für die Schule zu machen.

Obwohl es unter Umständen eine geeignete Stelle für eine Entführung war, hielt ich es für wenig wahrscheinlich, dass man den Jungen an Ort und Stelle getötet und hier verscharrt hatte. Aber ich wollte guten Willen zeigen, stieg aus und schaltete die Gabe an, die mich einzigartig macht. Keine Reaktion. Ich spürte nur das ganz leise Prickeln, das darauf hindeutete, dass hier irgendwelche uralten sterblichen Überreste herumlagen. Ich habe gelernt, dieses Gefühl bei meiner Suche nach frischen Leichen zu ignorieren. Obwohl der Bereich sich dadurch kaum änderte, lief ich die Längsseite des Grundstücks ab, das Ergebnis blieb jedoch dasselbe. Ich schüttelte stumm den Kopf und kletterte wieder in den Cadillac. Wir fuhren weiter, und Twyla machte uns auf die ein oder andere landschaftliche Besonderheit aufmerksam. Ich hörte kaum hin, sondern konzentrierte mich stattdessen auf das, was ich während der Fahrt wahrnahm. Der örtliche Friedhof versorgte mich mit einem lauten Rauschen, aber wir mussten anhalten, weil man hier Tylers Kappe gefunden hatte.

Natürlich lagen hier tonnenweise Tote begraben, und einige davon waren noch sehr frisch. Es war viel zu kalt, als dass ich die Schuhe hätte ausziehen können, aber ich verließ mich auf meinen Instinkt und ging zu den neuesten Gräbern. Da lag ein Herzinfarkt und jemand, der an Altersschwäche gestorben war. Irgendwann ist einfach Schluss. Das waren die jüngsten Todesfälle. Aber wenn ich mich nicht täuschte, war Tyler Lassiter schon vor zwei Jahren verschwunden, sodass ich noch viel mehr Leichen würde überprüfen müssen. Doch wie sich herausstellte, war keine davon Tyler. Alle waren diejenigen, die sie laut Grabstein sein sollten. Ich war froh, dass Doraville nicht größer war und dass einige auf dem neuen Friedhof südlich von Doraville begraben worden waren.

Wir befanden uns jetzt ganz im Westen der Stadt, und Twyla fuhr erneut rechts ran.

»Der Mann, der hier lebt, wurde verhaftet, weil er einen Jungen überfallen hat«, sagte sie und zeigte auf ein heruntergekommenes weißes Holzhaus, das hinter den Kletterpflanzen und jungen Bäumen kaum erkennbar war. »Er wurde zigmal verhört.«

Vom Auto aus spürte ich nichts. Ich stieg aus, ging ein paar Schritte geradeaus und schloss die Augen. Zu meiner Linken nahm ich ein Summen wahr, ganz weit hinten im Wald, aber es war das schwache Summen, das ich mit alten Friedhöfen in Verbindung brachte. Ich hörte, wie Tollivers Fenster nach unten surrte. »Frag sie, ob es da hinten eine alte Kirche mit eigenem Friedhof gibt«, sagte ich.

»Ja«, rief mir Twyla zu. »Da hinten ist Mount Ararat.«

Ich stieg wieder in den Wagen und sagte: »Nichts.«

Twyla atmete so tief durch, als spielte sie ihre letzte Karte aus. Sie schaltete in den Drive-Modus, und wir fuhren noch weiter aus dem kleinen Doraville hinaus. Twylas Navi zeigte an, dass es in Richtung Nordwesten ging, und die Straße begann anzusteigen. Ich sah zu den Bergen hoch und dachte, dass ich dort Jeffs Leiche niemals finden würde. Ich hatte keine Lust, in diesen Bergen herumzuwandern, und schon gar nicht bei diesem Wetter. Kurz kam mir der egoistische Gedanke: Warum hatte mich Twyla nicht schon zwei Monate früher angerufen? Oder einen Monat früher? Ich fröstelte, dachte an die beißende Kälte, den Schnee und daran, dass für die nächsten Tage schlechtes Wetter angekündigt war. Wir fuhren bergauf, doch noch war die Steigung harmlos.

Und dann hielt Twyla erneut. Ich sah, wie sie starr auf dem Fahrersitz sitzen blieb, ganz weiß im Gesicht.

»Hier lag das Handy«, sagte Twyla. Sie zeigte mit dem Daumen abrupt nach rechts. »Ich habe die Stelle mit einem Stein markiert, nachdem sie mir Sheriff Rockwell gezeigt hatte.«

Am Straßenrand lag ein großer Stein mit einem blauen Kreuz darauf.

»Sie haben ihn ziemlich tief in den Boden gedrückt«, sagte Tolliver.

»Die Mähmaschinen mussten darüberfahren können«, sagte sie. »Das war vor drei Monaten.«

Hier dachte jemand mit.

Ich stieg aus dem Cadillac und sah mich um, während ich meine Handschuhe anzog. Es war furchtbar kalt hier oben. Die Madison Road stieg steil vor uns an, sie war in den Berg zu unserer Linken geschlagen worden. Auf der anderen Seite befand sich eine mehr oder weniger ebene Fläche, die etwa einen halben bis einen ganzen Morgen umfasste, bevor das Gelände wieder anstieg. Darauf stand ein altes Haus, das schon seit Jahren nicht mehr bewohnt war. Das Grundstück besaß keine geraden Abmessungen, weil es den Hügelumrissen folgte. Es war lang und stellenweise auch schmal.

Wir hatten am höchsten Punkt geparkt, und wenn ich einen Schritt weiterginge, würde ich in einen tiefen Graben fallen. Die Auffahrt zum Haus führte über einen Abflusskanal, damit das Regenwasser ablaufen konnte. Die Überreste der Auffahrt führten durch die Überreste eines Zauns. Jetzt, wo alle Blätter gefallen waren, war das Gestrüpp gelb oder braun und abgestorben, im Vergleich dazu wirkte die ein oder andere junge Kiefer erstaunlich grün. Das Gestrüpp und die kleinen Bäume schienen den Zaun aufrecht zu halten.

Es war ein einfaches Haus gewesen. Das Dach war zwar nicht eingestürzt, wies aber Löcher auf, und die Veranda hing durch. Die Fenster waren eingeschlagen. Auf einer Seite befand sich ein Schuppen, eine Garage für zwei Autos mit breiten Türen, die schief in den Angeln hingen. Sie war einmal weiß angestrichen gewesen, genau wie das Haus. Ein Gruselgrundstück wie aus dem Bilderbuch.

Das Wasser im Abflusskanal war dunkel und bestimmt sehr kalt. In den letzten Wochen hatte es viel geregnet, und ich spürte die Feuchtigkeit, die noch mehr Regen ankündigte.

Tollivers schräg gelegtem Kopf entnahm ich, dass ich dort nachschauen sollte, wo der Hügel ins Tal überging. Er nahm offenbar an, dass man die Leiche in leichter zugänglichem Gelände verscharrt und ihre Hinterlassenschaften aus dem Wagen geworfen hatte, während man weiter hoch in die Berge fuhr. Und unter anderen Umständen hätte ich genau das gedacht.

Aber das war nicht nötig.

Sobald mein Fuß den Boden berührte, wusste ich, dass ich Neuigkeiten für Twyla haben würde. Das Summen war intensiv und wurde heftiger, je mehr ich mich der verwahrlosten Auffahrt näherte. Das war nicht nur das Signal einer einzigen Leiche. Ich bekam ein ungutes Gefühl, ein äußerst ungutes Gefühl, und hatte Angst, Tolliver anzusehen. Er hakte mich unter, in dem Wissen, dass ich beschlossen hatte, den abgezäunten Bereich zu betreten, der einmal der Garten des alten Hauses gewesen war.

»Der Boden hier ist ziemlich uneben. Ich wünschte, wir hätten unsere Stiefel angezogen«, sagte ich, ohne seine Erwiderung zu registrieren. Ich sah, wie ein blauer Pick-up vorbeifuhr, vor der Kurve verlangsamte und dann aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Er war das einzige Fahrzeug, dem wir auf dieser Straße begegnet waren.

Nachdem das Motorengeräusch verklungen war, wurden die Äußerungen der beiden Lebenden zunehmend bedeutungslos für mich, und ich nahm nur noch die immer dringlicheren Signale der Toten wahr. Ich ging weiter, Tolliver hinter mir herziehend. Vielleicht versuchte er sogar, mich ein wenig zurückzuhalten, aber ich ging weiter, denn mein Moment war gekommen - meine Verbindung mit jener Kraft, Gabe oder elektrischen Kurzschlussreaktion, die mich auszeichnete.

»Am besten, du holst schon mal die Fähnchen«, sagte ich, woraufhin er zurückging, um die mit roten Plastikfähnchen markierten Stäbe zu holen.

Ich stand in der kalten, nebligen Luft im ehemaligen Garten, genau in der Mitte zwischen dem Zaun und dem verfallenen Haus. Ich drehte mich im Kreis und spürte, wie das Summen um mich herum lauter wurde, während die Toten darum flehten, gefunden zu werden. Das ist alles, was sie wollen. Sie wollen nur gefunden werden.

Nach Luft ringend versuchte ich, etwas zu sagen.

»Was hast du?«, fragte Tolliver wie aus weiter Ferne. »Harper?«

Ich stolperte ein paar Schritte nach links. »Hier«, sagte ich.

»Mein Enkel Jeff liegt hier?« Twyla hatte sich mühsam aufs Grundstück gekämpft.

Ich ging zwei Meter nach Nordwesten. »Und hier«, sagte ich.

»Wurde er in Stücke gehackt

»Es gibt mehr als eine Leiche«, erklärte ihr Tolliver.

Ich hob die Hände, um mich besser zu konzentrieren. Ich drehte mich erneut im Kreis, diesmal langsamer und mit geschlossenen Augen und zählte sie an den Fingern ab. »Acht«, sagte ich.

»Ach du lieber Gott«, sagte Twyla und ließ sich schwer auf einen alten Baumstumpf sinken. »Ich werde die Polizei rufen.«

Sie musste Tolliver einen kurzen Moment lang zweifelnd angesehen haben, denn er sagte: »Sie können sich darauf verlassen, dass Harper recht hat.« Ich hörte, wie sie die Handytasten drückte.

»Was ist ihnen zugestoßen?«, fragte er leise. Er wusste, dass ich ihnen nach wie vor zuhörte, weil meine Augen noch geschlossen waren.

Ich schwieg. Das musste ich erst noch herausfinden, aber ich wollte nicht, dass mir außer ihm jemand dabei zusah. »Gut«, sagte ich und wappnete mich gegen das, was nun kam. »Tolliver?« Ich wollte wissen, ob er so weit war. »Hier bin ich«, sagte er. »Ich halte dich fest.« Ich spürte seinen Griff um meine Arme.

Ich betrat den Boden direkt über den Leichen, sah durch die Erde und Steine hindurch und erhaschte einen Blick in die Hölle. An mehr kann ich mich nicht erinnern.

 

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